L’ABSENCE (2006-2008)
Oper in fünf Akten (mit Prolog und Epilog) nach dem „Buch der Fragen“ von Edmond Jabès für 12 Sänger*innen, Sprecher, Tänzerin und Orchester

UA: 03.05.2012 bei der Münchener Biennale

Regie: Jasmin Solfaghari, Bühne: Etienne Pluss; Kostüme: Florence von Gerkan

mit Tehila Nini Goldstein, Assaf Levitin, Bernhard Landauer, Peter Pruchniewitz u.a. – Bundesjugendorchester; Ltg.: Rüdiger Bohn
Peermusic Classical Hamburg
Dauer: ca. 110′

Auszüge “L’Absence” – Münchener Biennale 2012

Programmtext

„L’ABSENCE“ (2006-2008)

Oper in 5 Akten (mit Prolog und Epilog) zu Edmond Jabès’ „Buch der Fragen“

für 12 Sänger*innen, Sprecher, Tänzerin und Orchester

Nachdem meine Kammeroper Herzland im Januar 2006 uraufgeführt wurde, sagte mir mein früherer Lehrer Johannes Schöllhorn: so, jetzt ist es Zeit für eine große Oper. Dieser Gedanke nahm seltsamerweise sofort von mir Besitz, ich wollte eine Oper schreiben. Als mir Walter Zimmermann, bei dem ich dann Meisterschülerin war, Das Buch der Fragen von Edmond Jabès empfahl, wusste ich: das ist der Stoff. Walter Zimmermanns Unterricht war immer sehr weit- und tiefreichend. Die Oper komponierte ich dann von 2006-2008 und sie ist ihm gewidmet.

Es macht mich sehr froh, dass Prof. Ruzicka „L’ABSENCE“ für die Münchener Biennale 2012 auswählte. Seiner Anregung habe ich auch die Entstehung von noch 4 Orchesterzwischenspielen zu verdanken.

Edmond Jabès wurde 1912 in Kairo geboren, er musste 1957 (während der Suezkrise) als Jude Ägypten verlassen und emigrierte nach Paris, wo er bis zu seinem Tod 1991 lebte und arbeitete. Seine Schriften sind eigen-artig im besten Sinne. Er schafft ganz neue Formen, indem er die Erzählstruktur auflöst, Schreiben und Lesen zusammenrücken lässt und das Schweigen in seine Dichtung mit einbezieht. Das Judentum spielt eine große Rolle darin, wie auch das Hinterfragen.

Eine Geschichte ist im Buch der Fragen schwer auszumachen, bzw. wenn man sie nacherzählt, sagt es kaum etwas über die Tiefe des Buchs aus. Die Hauptcharaktere Sarah und Yukel sind getrennt. Yukel sucht Sarah. Sie wurde zusammen mit ihren Eltern deportiert, ihre Eltern wurden ermordet. Sarah überlebte, ist jedoch – verrückt geworden. Deshalb ist sie nicht länger in ihrem Körper; Wahnsinn als Verlust einer Person, der dazu führt, dass auch Yukel, ihr Geliebter, sich verloren fühlt.

Somit spricht Das Buch der Fragen auch von der Shoa. Es erzählt jedoch ganz im Verborgenen. Meine Oper verstehe ich (überspitzt formuliert) keinesfalls als eine Art „Holocaust-Oper“. Es geht – wie der Titel schon sagt – um Abwesenheit und Trauer, um den Verlust von etwas Unwiederbringlichem.

Offenbar wird die Geschichte von Sarah und Yukel in Form von Hinweisen, durchsetzt von Reflexionen, Traumsequenzen usw. Das Kontinuum ist aufgehoben. Die Struktur des Textes erinnert dabei an Talmud-Traktate, immer wieder erscheinen imaginäre Rabbiner mit Kommentaren, die sich oft widersprechen. Es gibt einen Erzähler, er scheint manchmal dem Autor, manchmal Yukel zu gleichen. Durch diese Offenheit und Zweideutigkeit verschiebt sich der Sinn gewissermaßen permanent, was mich sehr faszinierte. Es gibt keine endgültige Aussage.

Für das Libretto habe ich Abschnitte genommen, die in ihrer poetischen Sprache suggestiv sind, wie auch solche, die Handlung für die Bühne enthalten. Ich habe kein einziges Wort von Edmond Jabès verändert, lediglich ausgewählt – man könnte auch sagen: das andere „ausradiert“ – und bin streng der Chronologie des Buchs gefolgt. Ab und zu habe ich den Text bestimmten Personen zugeordnet.

Die Sängerin „Sarah“ hat in meiner Oper ein Double in Form einer Tänzerin. Die Sängerin stellt das verlorene „Ich“ dar – die Seele, wenn man so will, oder eine Erinnerung. Die Tänzerin steht für die Sarah „jetzt“ – die „Ver-rückte“.

Die Bühne soll durch eine Wand oder Mauer gekennzeichnet sein: ihre Hauptbedeutung hat sie als Mechiza – eine Trennwand, die in vielen orthodoxen jüdischen Gemeinden verwendet wird, um die Frauen von den Männern abzugrenzen. Somit trennt die Mauer die gesamte Oper hindurch Sarah von Yukel, die Frauen von den Männern. Auch als Oberfläche für Projektionen spielt die Wand eine Rolle, oder für Schatten.

Der Bühnenbildner Etienne Pluss hat diese Ausgangsüberlegung zusammen mit der Regisseurin Jasmin Solfaghari und der Kostümbildnerin Florence von Gerkan in ein vielschichtiges, wandelbares Bühnenbild übersetzt. Es wird nicht nur eine Wand geben, sondern mehrere, sodass immer neue Räume entstehen können. Und es sind Menschen selbst, die die Räume schaffen: verändern, öffnen oder auch verschließen.

Die Oper ist durch den Einfluss traditioneller jüdischer Musik geprägt – was für mich bei dem Sujet nahe lag. Die Musiksprache bleibt jedoch „meine“ – zeitgenössisch. (Die Ästhetik entspricht dieser Zeit (2006-2008) und hat sich seither natürlich sehr verändert.) Wichtig waren aber z.B. bestimmte Gebetsformen oder Formen der Gesangskunst. Sarah und Yukel singen die ganze Oper hindurch in (verfremdeten) Kantillationen. Kantillation ist eine der ältesten Quellen jüdischer Musik, noch aus Tempelzeiten: die Art des Vortragens des Textes der Torah mithilfe von melodischen Floskeln, die wie Bausteine fungieren. Auch die Tradition der Mikrotonalität, das Verwenden von glissandi, vibrati, Vorschlägen und anderen Verzierungen als spezielle Ausdrucksmittel tragen dazu bei, musikalische Charaktere zu schaffen. Viele Bezüge und Verweise finden jedoch im Untergrund statt, in der Tiefe – abîme, Abgrund, Tiefe, ein wichtiges Wort für Edmond Jabès.

2012 wäre übrigens sein 100. Geburtstag.

Besetzung:

Yukel (Bariton)

Sarah   (Sopran)                                                              

Erzähler (Countertenor)

Chor der Rabbiner (2 Tenöre, 1 Bariton, 1 Bass-Bariton, 1 Bass)

2 „Rosen“/Léonie Lull und Mathilde Meyvis (Alt und Mezzosopran)

2 Kinder (2 Knabenstimmen, Sopran und Alt)

Leser (Sprecher)

Sarah II (Tänzerin)

Orchester:

2 Flöten (1 auch als Piccolo- und 2 auch als Bassflöte)

1 Oboe

1 Klarinette (auch Bassklarinette)

1 Fagott (auch Kontrafagott)

1 Trompete

2 Posaunen

1 Tuba

2 Schlagzeuger (Marimba, kleine Trommel, Gr. Trommel, Bongos, Tamburin, 4 hängende Becken, 1 TamTam, Gongs, Glockenspiel, Holzblock, Guiro, Gläserspiel, 1 TomTom, Crotales, Claves, Peitsche, Triangel, 1 Almglocke)

1 Zimbalum

1 Akkordeon

Streicher

Elisabeth Naomi Reuter: Yukel (2007)
Elisabeth Naomi Reuter: Sarah (2007)